Zur Entwicklung des Arbeitsbegriffs


In der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts war in Deutschland die Vorstellung weit verbreitet, Arbeit als Berufung und Schicksal zu sehen, die durch den göttlichen Willen oder einen absoluten Herrscher bedingt war. Sie galt als "Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses, des Bedürfnisses zur Erhaltung der physischen Existenz" [1]. Mensch arbeitete für das Überleben. Dieses Verständnis von Arbeit veränderte sich in der 2. Hälfte des Jahrhunderts gravierend. Arbeit wurde als staatsbürgerliche Pflicht und als nützliches Schaffen zum Wohl des Volkes angesehen. Dies hatte zur Folge, dass die nationale Identität nicht mehr nur über eine gemeinsame Kultur und Sprache definiert wurde, sondern auch über die "deutsche Arbeit".
Ein kritisches Verständnis von Arbeit fehlte in der Gesellschaft weitgehend, so dass ein heroischer Arbeitsethos und mit ihm das Ressentiment der Nichtarbeit vorherrschte. So stellt Gustav Freytag zum Beispiel in seinem 1855 erschienenen Buch "Soll und Haben" der "deutschen Arbeit" die "jüdische (Nicht-) Arbeit" und die als minderwertig angesehene "polnische Arbeit" gegenüber. Ein weiteres Beispiel dieser Art ist das Buch "Die deutsche Arbeit" von Wilhelm Heinrich Riehl aus dem Jahr 1861. In ihm bezeichnet Riehl "Gaunerei" [2] als negative Arbeit, die mit Zwangsarbeit als Erziehungsmittel bekämpft werden müsse.

Ideologisierung der Arbeit

Im Verlauf der Zeit wurde Arbeit immer stärker ideologisiert. Dies wurde durch den Börsenkrach von 1873 und die daraus resultierende Gründerkrise verstärkt. Von weiten Teilen der Bevölkerung wurden Sinti, Roma, Jüdinnen und Juden zunehmend parasitäre Eigenschaften zugeschrieben. Insbesondere Jüdinnen und Juden wurden beschuldigt von der Arbeit anderer zu leben und unproduktive Arbeit in Form von "Kapitalraffung" zu betreiben. Der Antisemitismus war hoffähig geworden und mit ihm die antisemitische Vorstellung von einem "schaffenden deutschen" [3] und einem "raffenden jüdischen" [4] Kapital. Bestandteil eben dieser Vorstellung war eine Gleichsetzung des liberalkapitalistischen Wirtschaftssystems mit den Jüdinnen und Juden. Diese Ideen äußerten sich unter anderem in Flugblättern, Broschüren und Vorträgen gegen sogenannte jüdische Wucherer. Außerdem wurde behauptet, dass Börsenkräche und andere Krisen Folge "jüdischer Nichtarbeit" seien. Diese würde das Wohlergehen der deutschen Nation, das allein den "deutschen" Bauern und der "deutschen" Wirtschaft zu verdanken sei, gefährden.

Originalbildunterschrift: 'Vollste Einsatzfähigkeit von Körper, Seele und Geist - das Lebensideal des deutschen Menschen' Quelle: Der Schulungsbrief. Hrsg.: Der Reichsorganisationsleiter der NSDAP. Berlin, 5. Jahrgang, 12. Folge, 1938.

Arbeiten statt Studieren

Nach dem 1. Weltkrieg radikalisierte sich dieses Arbeitsverständnis und mit ihm das Arbeitsethos in weiten Teilen der Bevölkerung. Die Sozialdemokratie bezeichnete die Weimarer Republik als "Republik der Arbeit". Oftmals wurden Studierende und noch zur Schule Gehende aufgefordert, nicht zu studieren und statt dessen zu arbeiten. Begründet wurde dies oftmals mit der Behauptung, dass das "deutsche Volk" ein "Volk der Arbeit" sei. Martin Heidegger forderte zum Beispiel die Studierenden auf, das Studium gegen die Arbeit einzutauschen.


Arbeit im Nationasozialismus

Die Förderung der "deutschen Arbeit" galt als Mittel, um die deutsche Wirtschaft nach der Weltwirtschaftskrise 1929 anzukurbeln. Zudem sollte sie die Arbeitenden in die Totalität der Gemeinschaft integrieren. In dieser Gemeinschaft galt, was auch im Parteiprogramm der NSDAP stand, "Gemeinnutz vor Eigennutz" [5]. Das deutsche Volkskollektiv zählte alles, das Individuum nichts. Arbeit war ein zentraler Bezugspunkt in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.
Der Prozess der Nationalisierung der Arbeit wurde sowohl auf ideologischer als auch auf institutioneller Ebene weiter vorangetrieben. Die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse wurden ebenfalls zunehmend ideologisiert. "Arbeit", "Rasse" und "Volk" waren untrennbar geworden. Die als positiv angesehenen Eigenschaften der Arbeitenden, wie Fleiß und Ehrlichkeit, wurden als angeborene und nicht als durch Sozialisation ausgebildete Eigenschaften des "deutschen Volkes" betrachtet.
Mit ihrem Namen "Nationalsozialistische Deutsche ARBEITERpartei" (NSDAP) versuchten die NationalsozialistInnen sich den Begriff der Arbeit anzueignen. Zum einen sollten sich Arbeitende angesprochen fühlen. Zum anderen aber sollte die große Bedeutung der Arbeit für das "deutsche" Volk zum Ausdruck gebracht werden.

Arbeitsdienst im Gebirgsgelände. Quelle: Der Schulungsbrief. Hrsg.: Der Reichsorganisationsleiter der NSDAP. Berlin, 5. Jahrgang, 2. Folge, Februar 1938.


Erziehung zur Arbeit

Mit der gesellschaftlichen Überhöhung der "deutschen Arbeit" waren der Ausschluss, die Verfolgung und die Vernichtung von Menschen verbunden, die als "Nichtarbeitende" angesehen wurden. Dieser Prozess war sowohl von "oben" als auch von "unten" erwünscht. Dies zeigt nicht zuletzt Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker - die ganz normalen Deutschen und der Holocaust", in dem er die gesamtgesellschaftliche Zustimmung zum Nationalsozialismus unter anderem am Beispiel der Diffamierung von "jüdischer Arbeit" beschreibt. Die Identifizierung mit der "deutsche Arbeit" war ein zentrales Moment für die breite Zustimmung der Bevölkerung zum Nationalsozialismus. Jüdinnen und Juden, Sinti, Roma und so genannte Asoziale, eigentlich Teil der Volksgemeinschaft, wurden jene negativen Eigenschaften zugesprochen, die - so das damalige Verständnis - ein "gesundes deutsches" Verhältnis zu Arbeit vermissen ließen und dem "deutschen Volk" schaden würden. Dies führte dazu, dass allein im Frühjahr 1938 im Rahmen der Kripo-Aktion "Arbeitsscheu Reich" mehr als 10.000 Menschen verhaftet und zur "Arbeitserziehung" in Konzentrationslager interniert wurden. Neben wirtschaftlichen Gründen, insbesondere dem Arbeitskräftemangel, war die ideologische Komponente maßgeblich: die "Disziplinierung durch Arbeit". Auch zeigt die Verfolgung von so genannten Arbeitsscheuen die zentrale Bedeutung der Arbeit für das nationalsozialistische Weltbild. Über den Toren der Konzentrationslager befand sich auch die Losung "Arbeit macht frei", die signifikant für den Arbeitsfetisch im nationalsozialistischen Weltbild ist.
Obwohl "arbeitsscheu" und "undeutsch" synonym verwendet wurden, wurden immer öfter "arische" Menschen als arbeitsscheu bezeichnet. Dieser Scheinwiderspruch lässt sich leicht erklären. "Arische" Arbeitsscheue galten als von außen durch so genannte Artfremde verdorben. 'Arbeit macht frei' auf dem Lagertor des ehemaligen Konzentrationslagers SachsenhausenSinti, Roma, Jüdinnen und Juden wurden mit Bakterien und anderen Krankheitserregern verglichen, die für Deutsche eine Gefahr darstellen würden. Nach der nationalsozialistischen Ideologie bedeutet dies, dass "arische" Arbeitsscheue in Arbeitserziehungslagern zum /zur "gesunden deutschen" Arbeiter / Arbeiterin erzogen werden konnten. Dementsprechend konnten "nicht arische" Asoziale nicht erzogen und sollten durch Arbeit (z.B. in Konzentrationslagern) getötet werden.


Vom Überlebensmittel zum Todeswerkzeug

Das ursprüngliche Verständnis von Arbeit hat sich im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte stark gewandelt. Während Arbeit anfangs zwar eine große Bedeutung im Leben der Menschen - als Mittel zum Überleben - spielte, war sie dennoch weder politisch noch ideologisch großartig besetzt.
Im Zuge der Bestrebungen zur Schaffung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff der Arbeit nationalisiert. Es entstand die wahnsinnige Idee der "deutschen Arbeit", welche dem deutschen Volke nütze, und der "nicht arischen Arbeit" (dazu zählen polnische, jüdische,... Arbeit), welche diesem schade. Wirtschaftskrisen wurden nicht als eben das begriffen, was sie waren - Bestandteil eines kapitalistischen Wirtschaftsystems, sondern mit dem Handeln einiger weniger böser, Menschen erklärt. Arbeit erlangte im Leben der Menschen eine zentrale Bedeutung, wurde zum einzigen Lebenssinn. Es wurde nicht länger gearbeitet, um zu leben, sondern gelebt um zu arbeiten, zu arbeiten für die deutsche Volksgemeinschaft. "Nicht arische Arbeit" wurde als von Krankheitserregern infiziert betrachtet, die dem deutschen Volk schadet. Dementsprechend wurden Aktionen wie "Arbeitsscheu Reich" als reine Schutzmaßnahmen propagiert.
Arbeit, eigentlich und ursprünglich Mittel zum Überleben, wurde durch nationale und nationalsozialistische Besetzung zum genauen Gegenteil. Sie wurde zum Mordinstrument an Millionen von Menschen, Menschen, deren einziger "Fehler" es war, nicht Teil der deutschen Volksgemeinschaft zu sein.