Jugend

Leah Shaw mit ihrer Mutter Nach der Machtübernahme durch die Nazis, quasi von einem Tag auf den anderen, hörten meine nichtjüdischen Freunde und deren Eltern auf, mit mir zu sprechen. Ich hatte keinen Kontakt zu nichtjüdischen Leuten mehr. Die Deutschen hörten von ihren neuen Herren, dass Juden Untermenschen seien und akzeptierten dies oder hatten vielleicht Angst sich zu widersetzen. Dieser plötzliche Wandel und die Möglichkeit, dass so etwas passieren kann, hat mich mein ganzes Leben verfolgt. Ich hatte eine gute Freundin, Anita, in deren Haus ich oft war. Kurz nach der "Machtergreifung" durch die Nazis traf ich zufällig ihre Mutter auf der Straße. Sie hat mich vollkommen ignoriert, das konnte ich zuerst kaum glauben.

1933 besuchte ich die 8. Klasse in einem Mädchen-Gymnasium, ich war eine gute Schülerin, wollte das Abitur machen und Studieren. In der 6. und 7. Klasse hatte ich den Wettbewerb um die besten Noten gewonnen, in der 8. Klasse hätte ich den zweiten Preis bekommen müssen. Aber die Klassenlehrerin teilte uns mit, dass ich den Preis wohl verdient hätte, aber nicht bekommen dürfe, weil ich Jüdin bin. Das offen zu sagen war schon mutig von ihr, sie war kein Nazi dieses Fräulein Lienhart.
Es gab aber auch andere Lehrerinnen, ich erinnere mich an Fräulein Illig, die keinen Hehl daraus machte, dass sie mich ablehnte, eben weil ich Jüdin war. Als Konsequenz aus solchen Erfahrungen war ich froh, von meiner Familie in das jüdische Landschulheim Herrlingen bei Ulm geschickt zu werden. In diesem religiös geprägten Internat auf dem Lande waren Kinder aus ganz Deutschland, viele von ihnen wussten überhaupt nicht was es bedeutet, jüdisch zu sein. Wir haben viel über die Religion und auch hebräisch gelernt. Wichtig war, dass wir dort vor den Unannehmlichkeiten geschützt waren, denen jüdische Kinder an den "deutschen" Schulen ausgeliefert waren. Aus diesem Grunde haben viele jüdische Kinder ihre Schulen verlassen und sind auf jüdische Schulen, die bis 1942 noch erlaubt waren, gewechselt. Ich habe in Herrlingen die 10. Klasse fertig gemacht. Weil mir bewusst war, dass ich auswandern muss, absolvierte ich noch ein 6-monatiges Praktikum in Küche und Haushalt.

Frau Flatow Zur weiteren praktischen Ausbildung bin ich dann nach Berlin übergesiedelt. Dort habe ich eine jüdische Haushaltsschule in der Auguststraße im Bezirk Mitte besucht. Gewohnt habe ich in Zehlendorf, im Hause der Eltern einer Freundin, die ich in Herrlingen kennen gelernt hatte. Das war die Familie Flatow. Herr Flatow war ein ehemaliger preußischer Ministerialrat, der als Sozialdemokrat und Jude seinen Job schnell verloren hatte. Diese Familie war sehr intensiv im sozialen Bereich im Leben der jüdischen Gemeinschaft engagiert, z. B. in der Organisation eines Werkdorfs in Holland. Dort haben deutsche Juden praktische Berufe erlernt, um ihre Chancen für die Auswanderung zu verbessern, Herr Flatowdenn mit der Auswanderung war das nicht so einfach. Viele Länder nahmen nur jüdische Flüchtlinge auf, die entweder soviel Geld hatten, dass sie davon leben konnten oder über Fähigkeiten in bestimmten Mangelberufen verfügten. Auch für die Auswanderung nach Palästina war es gut, einen handwerklich-praktischen Beruf zu haben.
Die Flatows selbst haben mit der Auswanderung lange gezögert, weil sie so viele Funktionen in der jüdischen Gemeinschaft ausübten. In letzter Minute sind sie dann nach Holland geflohen, aber von der deutschen Armee eingeholt und nach Auschwitz transportiert worden. Die Schwester von Herrn Flatow, eine Ärztin, blieb in Berlin, weil sie ihre alte Mutter nicht allein lassen wollte. Auch sie ist von den Nazis ermordet worden.
Weil die Juden durch viele Berufs- und andere Verbote vollkommen ausgegrenzt wurden, waren sie gezwungen, ihr soziales und kulturelles Leben getrennt von der übrigen Gesellschaft zu organisieren.

Wir Juden wurden ja schon im Lauf des Jahres 1933 aus allen Vereinen herausgeschmissen, jüdische Künstler durften nicht mehr auftreten usw. In Berlin entwickelte sich aus diesem Grunde ein vielfältiges kulturelles Leben innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. In meiner Berliner Zeit konnte ich also in viele schöne jüdische Veranstaltungen gehen, die der jüdische Kulturbund organisierte. Einige der - nun von den Nazis als Juden verfemten - besten deutschen Schauspieler und Musiker traten dort auf.
Einmal habe ich mich über das Verbot, als Jude in "deutsche" Theater zu gehen, hinweggesetzt, um mir mit einem Freund ein Stück über Friedrich den Großen anzusehen. Uns interessierte seine Person, als Philosoph und Aufklärer. Die Nazis sahen in ihm nur den großen Feldherren und Helden. Dort saß dann Hermann Göring mit seiner Frau in der Loge und wurde vom Publikum enthusiastisch mit Heil-Hitler-Rufen begrüßt. Das war uns natürlich nicht geheuer, und wir waren froh, als wir wieder draußen waren. Hätte man uns erwischt, wären wir im KZ gelandet. Dass einem das passierte, war damals sehr leicht, vor allem wenn man Jude war. Bei den Flatows lernte ich die Familie Bendix kennen. Der Vater war ein bekannter, bedeutender Rechtsanwalt gewesen. Er war so überzeugt vom Deutschen Rechtsstaat, dass er sich bei der Polizei über die alltäglichen Ungerechtigkeiten, denen man als Jude ausgesetzt war, beschweren wollte. Seine Familie musste ihm bis zu ihrer Auswanderung in der Wohnung einsperren, denn wenn er sich beschwert hätte, wäre er sofort verhaftet worden. Dieser Mann hat einfach nicht begreifen können, dass Juden in Deutschland keine Rechte mehr besaßen.