Jüdisches Leben in Sathmar           "Oma, erzähl mir..."           Stadtrundgang in Berlin          

"Oma, erzähl mir was über die Sathmarer Juden!"

Alte Synagoge der orthodoxen jüdischen Gemeinde in der Strada Ham Janos. Sie soll in naher Zukunft abgerissen werden. Meine Großmutter wurde am 22.08.1926 in Sathmar geboren. Als ich noch ganz klein war und bei ihr schlief, erzählte sie mir statt Gutenachtgeschichten immer über den 2. Weltkrieg und das Thema rückte langsam in den Mittelpunkt meines Interesses. Besonders viel erzählte sie mir über die Juden, die damals 25 bis 30% der Bewohner Sathmars ausmachten. Dazu gehörten Ärzte, Anwälte, Verkäufer genauso wie einfache Leute. Ein Drittel ihrer Klassenkollegen, ihrer Freunde und ihrer Bekannten waren ebenfalls Juden. Ihr schien es natürlich, unter Juden zu leben.

Weil ich schon vieles davon vergessen hab', was sie mir erzählte, dachte ich mir, ich könnte sie nochmals fragen, auch um genauere Daten in diesem Artikel anbieten zu können. Meine Oma begann ihre Erzählungen mit ihren damaligen Mietern, Juden natürlich, namens Rosenwasser. Oma sagte, sie hätten die Miete immer pünktlich bezahlt. Frau Rosenwasser war glatzköpfig und trug eine Perücke. Nach der Heirat mussten alle Mädchen ihrem Beispiel folgen. So verlangte es ihre Religion, denn sie waren orthodoxe Juden (die besonders religiösen Juden wurden im Übrigen "Bocher-Juden" genannt). Herr Rosenwasser ließ sich einen "Paisli" wachsen (je ein Zöpfchen neben den beiden Ohren, auch Schläfenlocken genannt), und trug einen langen, aus dünnem Material genähten Mantel, den "Kaftan", und einen schalartigen "Cices". Über die Essgewohnheiten ihrer Freunde erzählte Oma: "Sie aßen nie Schweinefleisch, nur Gans oder anderes Geflügel". Sie aßen "Scholet", eine Bohnenspezialität und "Maze" (ungesäuertes Brot, das vor allem zu Pessach gegessen wird). "Ich erinnere mich, als unsere Mieter uns vier oder fünf Blätter Maze zu Ostern geschenkt haben. Meine Schwester und ich haben es besonders gemocht." Ihre besten Freundinnen waren auch Jüdinnen: Éva Bernát , Lia Steiner, Kati Jónás. Die Juden, mit denen sie Kontakt hatte, waren besonders erfolgreiche Händler, erzählte mir meine Oma. Wie zum Beispiel der Vater von Kati Jónás, der eine große Firma hatte oder der Vater von Lia Steiner, der Bankdirektor war. Unter ihnen gab es außerdem viele Sathmarer Anwälte und Ärzte (Dr. Jeno Steiner, Dr. Berkovits, Dr. György Oszkár). Der heutige Mondiala-Laden war damals das sogenannte "Spitz Béla Geschäft". Braun hatte einen Süßigkeitenladen, Schön einen Tuchladen, Herz verkaufte gestrickte Sachen und die Fabrik Electrolux hieß damals Prinz-Fabrik.

Alte Synagoge Das Theater von Sathmar wurde zu dieser Zeit auch von vielen Juden besucht. Als aber die Nationalsozialisten auch in der Sathmarer Gegend stärker wurden und die Propaganda gegen die Juden schlimmer und schlimmer wurde, erschien zum Beispiel ein Artikel in der Zeitung, in dem stand, dass die Juden die Kulturszene ganz besetzen würden, so dass für die Sathmarer nichts übrig bliebe. Am darauf folgenden Samstag verbot der Rabbi den Sathmarer Juden ins Theater zu gehen. Als sie den Rat des Rabbis befolgten, wurde ein anderer Artikel veröffentlicht, der nun behauptete, die Juden könnten die Kultur nicht schätzen. Nichts was sie taten, gefiel den Leuten. Die jüdische Gemeinde handelte immer in einer Art und Weise, in der sie glaubten, akzeptiert zu werden. Nicht mal als sie ins Ghetto gebracht wurden, zeigten sie Widerstand.

Gebäude, das vermutlich als Sammellager für die Deportation von Sathmarer Juden diente Oma hatte auch eine jüdische Kollegin, Frau Davidovics, deren Mann Anwalt war. Sie arbeiteten zusammen bis zum Frühling 1944. Dann wurden die Sathmarer Juden im für diesen Zweck eingerichteten Ghetto (heute Markt Nr.1) gesammelt. Damals standen dort Häuser, und Hunderte von Juden wurden in kleine Zimmer eingepfercht. Von dort wurden sie Schritt für Schritt in die Vernichtungs- und Arbeitslager deportiert. Meine Großmutter hatte eine besonders nette Näherin namens Frau Weis. Eines Tages hatte Oma etwas auf der Botizuluistraße zu erledigen, als ihre Näherin zusammen mit anderen Hunderten von Juden in Richtung Eisenbahnbrücke gebracht wurde. Die Frauen wurden von ihren Männern getrennt. Frau Weis auch. "Diesen Moment werde ich nie vergessen, als ich sehen musste, wie sie das letzte Mal vor meinen Augen ihre Haare über die Schultern fallen ließ."


vermutlich Unterschrift eines Deportierten am ehemaligen Sammellager  Die Unterschriften in den Ziegelsteinen sind durch Restaurierungs- und Modernisierungsmaßnahmen akut gefährdet und mittlerweile kaum noch zu entziffern.  vermutlich Unterschrift eines Deportierten am ehemaligen Sammellager

Text von Agnes Graur

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