Siedlungsraum und soziale Lage

Durch die spätmittelalterliche Verfolgung in Westeuropa und Deutschland entwickelte sich Osteuropa, während des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit, zum bedeutendsten Siedlungsraum der Juden. Im Jahre 1800 lebten in Russland und Galizien (Teil Polens unter Österreichs Herrschaft) rund 1,5 Millionen Juden. Somit lebten 1825 ca. 70% aller Juden der Welt in Osteuropa. Während es 1850 bereits 72% waren und 1880 schon 75%, ging der Anteil der Juden in Westeuropa extrem zurück. 1900 schließlich lebten 7 Millionen Juden in Osteuropa, in Russland und Galizien allein 6 Millionen. Die große Mehrheit der Juden Russlands, zu dem große Teile Polens gehörten, musste im sogenannten Ansiedlungsrayon leben. Im Jahre 1897 lebten in diesem Rayon, der aus 10 polnischen und 15 russischen Regierungsbezirken (Gouvernements) bestand, ca. 98% aller russischen Juden und stellten zwischen 10 und 20% der Gesamtbevölkerung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand die zaristische Politik ganz im Zeichen des Versuchs, die Juden zum Christentum zu bekehren. Es wurde von Behörden in das bis dahin autonome jüdische Erziehungswesen eingegriffen und es wurden jüdische Kinder zwangsweise für 25 Jahre zum Heeresdienst rekrutiert.

 

 

Die Berufsstruktur

Im Rayon herrschte, aufgrund der gesetzlichen Beschränkungen, in den zugelassenen Berufen eine starke Konzentration, vor allem im Handel und Kleinhandwerk. Die Juden, die in Galizien lebten, hatten eine noch schlechtere Existenzgrundlage. Während nur ein Bruchteil von immerhin 800 000 Juden vor dem Ersten Weltkrieg eine halbwegs normale Existenz hatte, mussten die übrigen vom kleinen Handel, Schankgewerbe, Pfandleihgewerbe, primitiven Handwerk und gelegentlichen Betätigungen leben. Sie mussten sich von Tag zu Tag einen neuen Lebensunterhalt suchen. Der Masse der armen Juden stand nur eine kleine Gruppe Juden gegenüber, die mit Handel und industriellen Unternehmungen zu Wohlstand gelangt war.